Das Funktionieren autoritärer Systeme verlangt effiziente Steuerung und Kontrolle der gesellschaftlichen Strukturen, Prozesse und der in ihnen lebenden Individuen. In totalitären Systemen, der Steigerungsform autoritärer Herrschaft, wird die Kontrolle der Ressourcen, die Kontrolle der Arbeitskraft, der Organisationen, der Sprache, der Information und so letztlich des Denkens, Meinens und Handelns der Individuen zementiert. Das gilt heute für Putins Russland. 

So ist zu erklären, dass lediglich 20 bis 25 Prozent der russischen Gesellschaft eine Demokratie wollen. Viele Russen sind überzeugte Unterstützer von Putins Idee eines russisch dominierten, europäischen Großreiches. 60 Prozent der Russen leben mehr oder weniger indifferent, wollen einfach ein erträgliches Leben. Sie denken nicht unabhängig, tun ohne Widerspruch, was Putin befiehlt, glauben, was die Propaganda sagt. Putin und seine „Entourage“ haben Millionen Russen vom Sozialstaat abhängig gemacht. Jeder Dritte, also gut 30 Prozent der Bevölkerung, ist abhängig von Sozialleistungen oder staatlichen Sonderprogrammen. Sozialleistungen sind im heutigen Russland wichtiger als in der kommunistischen Sowjetunion. Geld aus dem Export von Öl, Gas und Rohstoffen wird verwendet um den Einfluss Putins und seiner Clique, den so genannten Silowski’s, zu maximieren. Der Mechanismus: Wer vom Staat abhängt, widersetzt sich ihm nicht. Peitsche und Zuckerbrot.

Russland ist ein Staat, der von Putin und den Sicherheitsdiensten kontrolliert wird. Die sogenannten »Machtministerien«, also die Ministerien mit der Befugnis, bewaffnete Gewalt gegen Bedrohungen für die nationale Sicherheit Russlands einzusetzen, sind in den letzten 15 Jahren zu den dominierenden Akteuren der russischen Politik geworden. Putin hat dort Vertraute installiert oder schon positionierte Gleichgesinnte gewonnen. Die Angehörigen dieser Machtministerien und die Führungseliten der Geheimdienste prägen unter Putin die russische Politik. Die Politik dominiert die Wirtschaft. 

Es bleibt die Frage, wer letztlich die Strippen zieht und in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bestimmt. Steht Putin unter der Kontrolle der Silowiki oder hat Putin die Silowiki im Griff und balanciert deren Macht mit der anderer einflussreicher Gruppierungen innerhalb Russlands aus.

Der Marsch Jewgeni Prigoschin’s auf Moskau kann als Beispiel dafür dienen, dass diese Frage bereits beantwortet ist. Es scheint zwar Machtkämpfe innerhalb der Eliten in Politik und Wirtschaft zu geben, die Putin oberflächlich betrachtet nicht vollständig beherrscht. Aber der unter extremen Druck stehende Verteidigungsminister Sergei Schoigu, der zum engsten Zirkel um Putin gerechnet wird, hat sich schnell und klar gegen Prigoschin durchgesetzt und dessen Marsch gestoppt. Es ist kennzeichnend, dass Prigoschin selbst während der aktiven Phase des Machtkampfes den Marsch auf Moskau gegen die Zusage des freien Geleits für sich und seine Söldner beendete. Er wußte, dass ihm kein anderer Weg blieb. Ein bewaffneter Konflikt innerhalb der Machtelite wäre aufgrund seiner mangelnden Ressourcen blutig gescheitert. Er wußte, dass selbst wenn er Schoigu hätte stürzen können, er im System Putin nicht überleben würde. Trotz aller Zusagen an Prigoschin hat Schoigu den Widersacher dann auf offener Bühne der Weltpolitik (natürlich mit Zustimmung oder gar auf Anweisung Putins) vernichtet. Eindeutig ein Sieg Putins innerhalb der Machteliten. Dieser Sieg jedoch zeigt auch, dass Putin selbst nicht Ziel von inneren Angriffen wird und werden darf. Direkte Angriffe auf ihn als zentraler Figur würden mit hoher Wahrscheinlichkeit das System kollabieren lassen. Das wissen seine Unterstützer. Sie erfolgen deshalb nicht.

Putin direkt ins Visier zu nehmen, wäre schon in Friedenszeiten ein schwieriges Unterfangen. In einem Krieg – auch wenn er noch so unglücklich läuft – kann es in Russland derzeit nicht gelingen. Der Krieg lenkt die Aufmerksamkeit von innenpolitischen Themen oder Unzulänglichkeiten ab. Putin zwingt die Aufmerksamkeit der Eliten und der Bevölkerung auf die äußere Bedrohung und kann alle gesellschaftlichen Kräfte gegen einen gemeinsamen Feind, den faschistischen Westen, einen. Der Kampf gegen den faschistischen Westen weckt das Gefühl der nationalen Einheit. Eine Opposition, die andere Sichtweisen eröffnet, fehlt. Putin als starker und entschlossener Verteidiger der Interessen der russischen Nation. Die Notwendigkeit einer starken Führung, die die bevorstehenden Herausforderungen meistert, stärkt die Autorität Putins und so seiner Machtelite, rechtfertigt die Unterdrückung abweichender Meinungen, auch wenn sie innerhalb der Führung aufkommen sollten.

Die Sanktionen des Westens, die Isolation Russlands zwingen die Machthaber im Kreml nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Teilen der Welt zu kriegerischem Handeln. Syrien, Afrika, Zentralasien sind heute Wirkstätten dieser Politik. Eine gut organisierte Kriegswirtschaft wirkt gegen alle Erwartungen Wunder. Das hatte auch das nationalsozialistische Deutschland in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts schon verstanden und wirtschaftlicher Nutzen der Kriegsmaschinerie eröffnete schon damals Chancen für Wachstum, Gewinne und Wohlstand, insbesondere für diejenigen mit Eigeninteressen an militärisch-industriellen Komplexen. 

Eine Kriegswirtschaft braucht den Krieg, sonst zerstört sie ihre positiven Effekte, frisst sich sozusagen selbst auf. Das System Putin braucht schon deshalb zukünftig Krieg. Das ist Putins Spiel. Krieg als Mittel zur Entwicklung und Stabilisierung seines Systems, seines Traums vom russisch gelenkten Eurasien.

Foto: Alina Grubnyak unter Upsplash Lizenz 2024

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