Die Stärke der Sozialdemokratie nährte sich lange aus der Fähigkeit, einen großen, zielgerichteten gesellschaftlichen Entwurf anzubieten. Es gelang der Nachkriegs-SPD einen für weite Teile der Gesellschaft attraktiven Sinnzusammenhang zu generieren.
Die konsistente und glaubwürdige Erzählung von einer besseren Gesellschaft erlaubte das Alltagshandeln in einem großen, stimmigen Bild zu vermitteln und das gesellschaftliche Handeln daran auszurichten. Die sozialdemokratische Vision einer freiheitlich- demokratischen Gemeinschaft, in der alle mit ihren Fähigkeiten, Gedanken und Handlungen zu einer erweiterten Teilhabe in Gesellschaft und Wirtschaft beitragen, ließ Willy Brandt unter anderem mit tiefgreifenden Änderungen in der Mitbestimmung in Betreiben und den bahnbrechenden Ostverträgen politisch-praktische Realität werden. Vision und politisches Handeln waren im Gleichklang.
Das Versprechen der Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess, der Demokratisierung aller Lebensbereiche und die soziale Ausrichtung der Wirtschaft waren Credo der Partei. Diese Vision vereinte gesellschaftlich heterogene Gruppen und machte die SPD bis in konservative Schichten zur wählbaren, integrativen Kraft oder Alternative. Die Sozialdemokraten konnten die Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft auflösen, weil die Mitglieder der Partei aktiv in ihre Alltagsnetzwerke eingebunden waren und dort exemplarisch die sozialdemokratische Gesinnung und Praxis lebten und multiplizierten. In der heutigen, individualisierten, fragmentierten Gegenwart ist dies ungleich schwieriger.
2024 stehen Europawahl, Landtagswahlen und mehrere Kommunalwahlen an. Die SPD erreicht in derzeitigen Umfragen bundesweit nur noch 15 bis 17 Prozent. Die Ampel fällt in den Umfragen auf 33 Prozent. Lars Klingbeil und Saskia Esken wollen Doppelspitze der SPD bleiben. Auch Generalsekretär Kevin Kühnert stellt sich der Wiederwahl. Höchstwahrscheinlich wird dieses Trio die SPD mit Kanzler Scholz in die Bundestagswahl 2025 führen, sollte die jetzige Regierung nicht an ihrer Finanzpolitik zerbrechen.
Die zum Schlagwort abgemagerte „Modernisierung Deutschlands“ wird nicht zu einer Vision. Einzelmaßnahmen wie Senkung der Einkommenssteuer für 95 Prozent der Bevölkerung, Krisenabgabe für Reiche, Lockerung der Schuldenbremse und Erhöhung des Mindestlohns, können bestenfalls als Beispiele für das Fehlen eines gesellschaftlich kommunizierbaren Ziels dienen. Das Versprechen, Investitionen von jährlich 100 Milliarden Euro in Bildung, Infrastruktur, Digitalisierung und den energetischen Umbau der Industrie zu leisten, ist spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes unglaubwürdig, ja, auf der Basis des heutigen Haushalts nicht umsetzbar.
Außenpolitisch vollzieht die SPD die Kehrtwende und will eine Führungsrolle Deutschlands in der Welt. Sogar die Anerkennung militärischer Stärke als Mittel der Friedenspolitik wird in für die Führung der SPD zur Realität.
Der Kern sozialdemokratischer Prinzipien, die gemeinsame Gestaltung grundlegender sozialer Prozesse und die partizipative Veränderung der Gesellschaft zu einer ökologisch geleiteten, gerechten und freiheitlichen Ordnung, zersplittert in viele reaktive Komponenten, die als Antwort auf den Kampf mit den politischen Wettbewerbern um Wählerstimmen entstehen. Die bloße Addition solcher Einzelmaßnahmen wird keine kommunizierbare Vision. Ohne Vision aber wird die SPD weiter an Kraft und Bedeutung verlieren.
(Foto: Karsten Rixecker, Copyright 2013 ff.)